Hans

Bücher, die ich lese, lesen möchte, gelesen oder angelesen weggelegt habe.

Abgestempelt und aufgegeben

Wolkengängerdie Wahre Geschichte Eines Russischen Waisenkindes - Alan Philps, John Lahutsky, Carina Tessari

Das Buch schildert das Schicksal des kleinen Wanja, der als Sohn einer Alkoholikerin verfrüht mit nur einem Kilogramm Gewicht in Russland zur Welt kommt. Die Ärzte prognostizieren, dass er nie laufen könne. Die überforderte Mutter gibt ihn in staatliche Obhut.

 

In dieser "Obhut" beginnt der schreckliche Leidensweg des Jungen. Das russische Fürsorgesystem macht keinen Unterschied zwischen körperlicher und geistiger Behinderung, die Menschen werden einfach weggesperrt und sich selbst überlassen. Es mangelt an menschlicher Wärme, Nahrung, Pflege, Kleidung und Spielzeug. Wanja kannte nicht einmal Bäume, Regen, Schnee, Sonne usw. Er lebt ja nur in einem Zimmer. Entweder am Tisch oder im Bett.

 

Doch Wanja gelingt es, sich selbst das Sprechen beizubringen. Außerdem schafft er es, durch seine freundliche Art Kontakte zu manchen Pflegerinnen, falls sie nicht gerade zu der überforderten unmenschlichen Sorte gehören, zu knüpfen. Auf diese Weise erhält er manchmal häppchenweise Zuwendung und ist glücklich darüber. Auch bringt er seinem Freund Andrej, der teilnahmslos neben ihm am Tisch, an dem sie sich stundenlang aufhalten müssen, sitzt, im Laufe der Zeit ein wenig Sprechen bei.

 

So findet er auch Kontakt zu einer ausländischen Gruppe von Hilfskräften, die diesen Kindern eine bessere Betreuung ermöglichen wollen. Sie scheitern sehr oft an der Gleichgültigkeit, der immer noch vorherrschenden Obrigkeitshörigkeit und einfach an der Gier der Menschen. Spenden, für die Kinder gedacht, verschwinden.

 

In diesen Strudel gerät Wanja. Er wird zwar später als Fünfjähriger aus einer "Irrenanstalt" für Erwachsene gerettet, wo er fast nackt dauerhaft in einem Gitterbett gefangen war, dort auf der Gummiunterlage sogar seine Notdurft verrichten musste, jedoch landet er wieder in dem Babyhaus, dem er eigentlich entwachsen ist. Es bemühen sich Familien, ihn zu adoptieren, doch scheitern diese Bemühungen an der Engstirnigkeit weniger Leute.

 

Dieses lesenswerte Buch, ein Tatsachenbericht, hat mich sehr betroffen gemacht. Nicht nur die Gleichgültigkeit und Kaltherzigkeit einiger Menschen, auch wenn diese durch das vorherige stalinistische System und die momentane russische "Demokratie" geformt wurden und eigentlich als hilflos bezeichnet werden könnten. Mir gingen die klitzekleinen Freuden des kleinen Wanja, wenn er mal etwas Aufmerksamkeit erheischen konnte, sehr, sehr nahe. Ebenso seine Enttäuschungen, wenn mal wieder die Behörden versagt hatten, weil dort Menschen entschieden, denen es nur um ihrer selbst ging, das Schicksal hinter ihrer Entscheidung aber egal war.

 

Wanjas Ziel war, ein wenig Wärme und Zuwendung zu finden. Eben das, was sich jedes Kind wünscht und dringend braucht. Zuwendung gab er übrigens selber seinen "Mitgefangenen"! Er wollte so gern eine Mutter haben, ohne genau zu wissen, was eine Mutter ist. Doch ahnte er wohl, dass er sich in ihren Armen geborgen fühlen kann.

 

Wer dieses Buch liest, wird meine Empfindungen sicher teilen. Das Lesen dieses Romans halte ich für ein MUSS! Denn auch heute noch vegetieren Kinder in russischen Waisenhäusern, trotz aller Bemühungen diverser Hilfsorganisationen. Auch in Russland gilt heutzutage schnell viel Geld zu machen, da ist für soziale Leistungen kein Platz mehr.

 

Hinzu kommt, dass dieses Buch so geschrieben ist, dass man gar nicht aufhören kann zu lesen und erfahren möchte, wie es mit Wanja und seinen Weggefährten weitergeht. Mir ging es jedenfalls so. Es kann aber daher kommen, weil ich selber 10 Jahre (1958 bis 1968) in einem Kinderheim untergebracht war. Da waren wir zwar recht gut versorgt, doch es fehlte etwas.